Moderne Hexenjagd

„Wir müssen uns mit den politischen Positionen der Linkspartei auseinandersetzen. Wenn die SPD Positionen vertritt, die vielleicht die Linkspartei überflüssig machen, ist das Wettbewerb, also okay.

Es wird nicht funktionieren sie zu verschweigen, schlecht zu machen, ihre Positionen für abwegig zu erklären oder sie einfach rauszudrängen. Es hat sich in Hessen gezeigt, dass das nicht klappt, und im Bund erst recht, wo die Linke stark wieder eingezogen ist. Die Wählerinnen und Wähler sind schlauer und schauen sich genau an, für welches Programm sie ihre Stimme abgeben.“ (Link zum Tagesspiegel)

So wenig aufregend diese Sätze von Andrea Ypsilanti im Tagesspiegel-Interview scheinen – decken sie sich doch mit den Überzeugungen der meisten roten, grünen und linken Wähler, denen im hessischen Wahlkampf von SPD, Linke und Grüne ein Politikwechsel versprochen wurde – so überraschend die Reaktionen einiger Journalisten. Nicht nur die FAZ hatte sich vergangene Woche auf Andrea Ypsilanti gestürzt (siehe Artikel vom 27.9.2013), auch Christopher Plass vom Hessischen Rundfunk hat sich kräftig daneben benommen.

„Ypsilantis politische Dummheit“ überschrieb er einen Kommentar, in dem er Ypsilanti nicht nur einen Trampel nannte und ihr Illoyalität gegenüber Torsten Schäfer-Gümbel vorwarf, der Kommentar gipfelte in der Aufforderung, Ypsilanti solle die SPD-Fraktion verlassen.

„Steht die Beurteilung durch CDU-Theisen an? Ich weiß nicht, was dieser brunzdumme HR-Kommentar sonst soll“, antwortete prompt ein Twitter-Nutzer.

Inzwischen haben auch mehrere Wissenschaftlerinnen in einem Offenen Brief an den Hessisschen Rundfunk gegen den Kommentar protestiert:

An den
Hessischen Rundfunk
Herrn Christopher Plass

cc: An den Intendanten des
Hessischen Rundfunks, Dr. Helmut Reitze,
zur Vorlage im Rundfunkrat

Frankfurt am Main, 30.09.2013

OFFENER BRIEF AN DEN HESSISCHEN RUNDFUNK

Sehr geehrter Herr Plass,

mit großer Verärgerung haben wir Ihren Kommentar vom 27.09.2013, »Ypsilantis politische Dummheit«, zur Kenntnis genommen. Er ist unserer Auffassung nach mit publizistischen Grundsätzen in keiner Weise zu vereinbaren, erst recht nicht mit denen einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt.

Seit Wochen schon schreiben einige Medien wie selbstverständlich vom »Ypsilanti-Debakel« oder der »Ypsilanti-Falle«. Seit dem Scheitern des Versuchs einer von der Linkspartei tolerierten rot-grünen Regierung in Hessen 2008 hat sich ein Diskurs durchgesetzt, der dieses Scheitern in einer gänzlich verkürzten Weise personalisiert. Der Versuch einer solchen Regierungsbildung wurde von der absoluten Mehrheit der Hessischen SPD auf ihren Parteitagen beschlossen und fand auch eine gesellschaftliche Unterstützung in breiten Kreisen, z.B. durch die Gewerkschaften. Es waren vier Abweichlerinnen und Abweichler, die dieses Projekt aus machttaktischen, egoistischen Gründen verunmöglichten. Wenn Ihr Begriff der »Illoyalität« irgendeinen Sinn macht, dann in diesem Zusammenhang. Es war das Scheitern der SPD, nicht lediglich das ihrer Spitzenkandidatin, welches in der Folge niemals aufgearbeitet wurde. Stattdessen hat die SPD den Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet. Doch das Verdrängte kehrt, wie wir wissen, wieder zurück, wenn es nicht bearbeitet wird.

Andrea Ypsilanti musste einen hohen Preis dafür zahlen, dass sie den Mut hatte, ein linkes Reformprojekt zu versuchen. In der medialen Öffentlichkeit wurde sie regelrecht hingerichtet. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter sprach damals von deutlichen Parallelen zur Hexenverbrennung. Und der Journalist Tom Schimmeck, der diese mediale Kampagne analysiert hat, fasst das Ergebnis folgendermaßen zusammen: »Das gab es so noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein historischer Tiefpunkt ist erreicht: die Vereinheitlichung der veröffentlichten Meinung.«

(…)

Haben die Medien zumindest etwas aus diesen Vorgängen gelernt? Der Hessische Rundfunk offenbar nicht im Geringsten, wie Ihr Kommentar zeigt. Nicht nur verdreht der HR-Beitrag »Ypsilanti stellt sich gegen SPD-Chef«, den Sie kommentieren, den eindeutigen, für alle nachlesbaren Inhalt des Interviews im Tagesspiegel und unterstellt Ypsilanti wahrheitswidrig einen gezielten Angriff auf Thorsten Schäfer-Gümbel. Mehr noch wiederholt Ihr Kommentar die sexistischen Klischees der Vergangenheit und bedient sich der bewährten Frauen verachtenden Strategie, inhaltliche Positionen einer Politikerin durch deren persönliche Verunglimpfung zu verhöhnen: Er strotzt vor Beleidigungen (»ferngesteuerter Ypsi-Klon«, »an politischer Dummheit nicht zu überbieten«) und gipfelt schließlich in dem Versuch, Andrea Ypsilanti mundtot zu machen. So schreiben Sie anmaßend, dass Frau Ypsilanti zwar jedes Recht habe, »sich öffentlich zu verbreiten«, da hätten die »Journalisten auch gar nichts dagegen« – als ob es Ihnen überhaupt zustünde, zu entscheiden, wer von seinem öffentlichen Rederecht Gebrauch machen darf. Schließlich endet Ihr Text mit der politisch mehr als arroganten Frage, was Frau Ypsilanti in der Fraktion der SPD noch wolle.

Frau Ypsilanti hat ihre Einschätzung der politischen Situation geäußert, wie dies zur Zeit viele Politikerinnen und Politiker aus SPD und Grünen tun. Das ist in einer parlamentarischen Demokratie eine Banalität. Man kann anderer Meinung sein, aber einer Politikerin die Berechtigung zur eigenständigen Positionierung abzusprechen und sie in dieser Weise jenseits publizistischer Grundsätze mit Hass und Häme zu überziehen, ist völlig inakzeptabel.

Ihr Kommentar hat darüber hinaus keinen sachlichen Bezug zu den in der Tat nicht einfachen Verhandlungen über eine Regierungsbildung in Hessen. Er wärmt lediglich die politisch und persönlich diffamierenden Anwürfe von 2008 wieder auf. Sie tragen journalistisch die Verantwortung dafür, dass Sie dieses verunglimpfende und Frauen verachtende Sprechen erneut wiederbeleben und in Umlauf bringen.

Als feministische Wissenschaftlerinnen haben wir uns entschlossen, diese Art von »hate speech« nicht noch einmal hinzunehmen, sondern einer solchen Form des Missbrauchs der eigenen öffentlichen Redemöglichkeit auch öffentlich zu widersprechen.

Hochachtungsvoll

(Prof. Dr. Sonja Buckel)
Universität Kassel

gez. Dr. Brigitte Bargetz,
Universität Wien

gez. Prof. Dr. Regina-Maria Dackweiler,
Hochschule RheinMain, Wiesbaden

gez. Prof. Dr. Ina Kerner,
Humboldt Universität zu Berlin

(Julia König)
J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M.

gez. Prof. Dr. Regina Kreide
Justus Liebig Universität Gießen

gez. Dr. Nadja Meisterhans,
Co-Sprecherin des ‚AK Politik und Geschlecht‘ der Deutschen
Vereinigung für Politikwissenschaft

gez. Margit Rodrian-Pfennig (OstR’in i.H.),
J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M.

gez. PD Dr. Marit Rosol,
J. W. Goethe-Universität Frankfurt a. M.

(Dr. Claudia Wucherpfennig)
Bildungsreferentin, Frankfurt a.M.

gez. Katharina Volk,
Co-Sprecherin des ‚AK Politik und Geschlecht‘ der Deutschen
Vereinigung für Politikwissenschaft

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