Solange Kopf und Herz vom Alten besetzt sind, findet das Neue keinen Platz. (Ludwig Börne)
Eines Abends vor circa 25 Jahren bin ich zum Wasserhäuschen in meiner Straße gegangen, um eine Packung Erdnüsse zu kaufen. Während ich wartete bis ich an die Reihe kam, hörte ich einem Gespräch von zwei Thekenstehern zu, sie pöbelten über Ausländer. Als ich meine Nüsse hatte, drehte ich mich zu den Männern um und sagte: „Schämen Sie sich nicht? Der Mann, an dessen Theke Sie gerade Ihr Bier trinken, ist auch Ausländer.“ Das Geschrei der beiden Männer hinter meinem Rücken hörte ich noch an der Haustür.
An diese lang zurückliegende Begebenheit musste ich gestern in der Paulskirche denken. Die Bier trinkenden Männer dachten, sie wären unter sich, aber sie bewegten sich in einer kleinen Öffentlichkeit. Nicht anders ist das heute auf Facebook oder Twitter.
Ginge es nach Florian Illies, dem Laudator des Ludwig-Börne-Preises 2019 und der Preisträgerin Eva Menasse (eine wunderbare Autorin!) gäbe es kein Twitter, keine Blogs, kein Facebook. Die schöne alte Öffentlichkeit wäre noch organisiert wie eine Preisverleihung in der Paulskirche: Jovial, selbstgewiss und von oben herab verkündet (meistens) ein Mann von publizistischem Rang, wie die Herren und Damen im Publikum die Welt zu sehen haben. Der Laudator bestimmt beim Börne-Preis allein den oder die PreisträgerIn. Illies hat diese Macht genutzt, seine Kritik an der neuen digitalen Welt, die er bereits 2014 in der Paulskirche vorgetragen hat, zum Hauptthema dieses Vormittags zu machen.
„Zehn Jahre Internet für alle, mobil auf die Hand, haben genügt, um uns das, was Börne und Heine vor zweihundert Jahren begründet haben, verlernen zu lassen. Die vielgerühmte Freiheit, dass sich jeder zu allem äußern kann, schafft die gefährliche Illusion, dass das Aushalten anderer Meinungen nicht mehr nötig ist“, so Menasse in Ihrer Dankesrede.
Eva Menasse hat leider keinen Twitter-Account, sonst wüsste sie, dass Menschen dort die ganze Zeit diskutieren. Und sie tun das – wie im echten Leben – auf ihre je eigene Art. Und alle können mitlesen, den Kopf schütteln, antworten oder ignorieren.
Im Dezember 2018 kam heraus, dass Robert Menasse, der Stiefbruder von Eva Menasse, mehrmals Zitate gefälscht hat. (siehe Deutschlandfunk: KLICK). Vor fünf Tagen saßen Robert und Eva Menasse erstmals gemeinsam auf einer Bühne. Als dort auf dem Potsdamer Literaturfest die Rede auf Menasses Fälschungen kam, kritisierte Eva Menasse nicht ihren Bruder sondern die empörten öffentlichen Reaktionen im Internet: „Jeder kann da reinschreiben, was er denkt. Das Internet ist jetzt noch ein rechtsfreier Raum, das geht nicht“. Das ist wohl ein lupenreiner Fall von Problemverschiebung.
Am Ende ihrer Rede hat Eva Menasse uns Paulskirchenbesucher als „schönes, altmodisches Beispiel“ für eine aussterbende Form von Öffentlichkeit bezeichnet – „sozusagen als in Glas gegossene Insekten“. Nun, Frau Menasse, ich bin zwar ein paar Jahre älter als Sie, aber ich kann noch ins Digitale fliegen.
Danken muss ich heute unserem Oberbürgermeister Peter Feldmann, der in seiner Begrüßungsrede auf die Frechheit der Frankfurter eingegangen ist und als Beispiel dieses Zitat von Börne vorgetragen hat: „Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum.“
„Frechheit und Direktheit macht uns Frankfurter stark“, betonte der Oberbürgermeister, das Kritisieren von allem und jedem läge uns nun mal im Blut. Das gefiele natürlich nicht jedem, meinte der OB, so würden z.B. die Rechtspopulisten sagen: „Das kann doch nicht wahr sein, das alle einfach mitreden“. Nicht nur denen gefällt das nicht, möchte man hinzufügen, auch den Hütern der alten Öffentlichkeit in den Verlagen und Feuilletons gefällt das nicht.
Der Frau A. Krampf-Karrenbauer gefällt das ganz offensichtlich auch nicht… Seitdem ich ihre Äußerung bezüglich der Beschneidung der Meinungsfreiheit vor Wahlen auf FB gelesen habe, habe ich so meine Zweifel, ob dieses Wesen jemals einen Blick in das Deutsche Grundgesetz getan hat.
Aber damals gab es diesen gefährliche Internet doch noch gar nicht….
Dass Leute so intelligent und gleichzeitig so inkompetent sein können, ist wirklich schwer einzusehen
Für mich ist diese sehr unpassende und vor allem höchst undemokratische Bemerkung ein sehr beredter Ausdruck von Hilflosigkeit. Die im Grundgesetz zugesicherten Rechte einschränken, weil man mit dem eigenen Versagen nicht zurande kommt – kommen möchte.