„Denn in Abermillionen Leserkommentaren im Internet wird Börnes Feier des authentischen Schreibens tagtäglich als Aufforderung dazu missverstanden, dass jeder alles aufschreiben und mit allen teilen solle, was ihm so durch die Rübe rauscht. Jeder Brief, jeder Aphorismus, jeder Artikel Börnes lehrt jedoch, dass die Kunst, ein Originalschriftsteller zu werden, nur erlernen kann, der über echte Herzensbildung verfügt, Selbstzweifel und ein kritisches Urteilsvermögen, auf dessen Basis er seinen Assoziationen freien Lauf lässt.“ (Preisträger Florian Illies in seiner Dankesrede anlässlich der Ludwig-Börne-Preisverleihung 2014)
Ob Florian Illies über ausreichende Selbstzweifel verfügt, kann ich nicht sagen, aber dass hier jemand spricht, der sich fürchtet, im Internetzeitalter die Meinungs- und Deutungshoheit zu verlieren, dies ist unschwer zu erkennen. Der französische Soziologe Michel Maffesoli nennt solche Leute „Große Langweiler, die ganz von Ihren Überzeugungen durchdrungen, sich verpflichtet glauben, anstelle der anderen zu denken“.
Wie man hört, habe ich mich ziemlich geärgert über den diesjährigen Ludwig-Börne-Preisträger. Ein Autor von fünf Büchern, darunter „Generation Golf“ und „Anleitung zum Unschuldigsein“, der heute mit Kunst handelt („Ah, der weiß auch, wie man Geld verdient“, denkt da das gehobene Frankfurter Bürgertum), erhält den Börne-Preis und versucht sich in seiner Dankesrede am Beweis, dass Börne Goethe gar nicht hasste, sondern liebte. Der Kampf Ludwig Börnes für Freiheit und Demokratie, sein Hass auf die Verfechter der feudalen Ordnung als Ausdruck eines Vater-Sohn-Konflikts.
Wer den Ludwig-Börne-Preis erhält, entscheidet ein vom Vorstand der Ludwig-Börne-Stiftung benannter Preisrichter in alleiniger Verantwortung. Das ist ein spannendes Konstrukt, kann aber auch mal schiefgehen. In diesem Jahr durfte Martin Meyer, Feuilleton-Chef der Neuen Zürcher Zeitung, den Preisträger auswählen und er entschied sich für den braven und gar nicht aufmüpfigen „Sohn“ Florian Illies. Nach den Vorjahrespreisträgern Götz Aly und Peter Sloterdijk vermisste man bei der Rede des diesjährigen Preisträgers vor allem eines: Die Relevanz.
„Sich dem Wesentlichen zuwenden, tatsächlich nicht mehr vom „Geplätscher der Zweitursachen“ (Paul Claudel) betäubt werden, das allzu oft nicht erlaubt, das Hintergrundgeräusch der Welt zu hören. Ein Geplätscher, mit dem sich Eliten zufriedengeben, die insgesamt mit sich selbst zufrieden sind.“
(Michel Maffesoli, „Die Zeit kehrt wieder: Lob der Postmoderne“)
Dabei ist es gar nicht schwer, preiswürdige Autoren zu finden, die den Vorstellungen der Stiftung entsprechen („deutschsprachige Autoren, die im Bereich des Essays, der Kritik und der Reportage Hervorragendes geleistet haben“). Es genügt ein Blick in das Verlagsprogramm von Matthes und Seitz.
Zum Beispiel Alexander Pschera, dessen Essay „Vom Schweben“ mich sehr beeindruckt hat. In der Reihe „Fröhliche Wissenschaft erschien auch Maffesolis Lob der Postmoderne, von dem eigentlich dieser Artikel ausschließlich handeln sollte – hätte nicht die FAS mit dem Abdruck von Illies Rede noch auf meinem Wohnzimmertisch gelegen und mich zu diesem Exkurs veranlasst.
Allerdings – die Leser mögen mir verzeihen, dass ich „meinen Assoziationen freien Lauf lasse“ – gibt es eine wichtige Parallele zwischen Börnes Zeitalter und heute. Wie im Vormärz befinden wir uns auch heute am Ende einer Epoche.
Maffesoli beschreibt diese Veränderung als einen Paradigmenwechsel. Die gesellschaftlichen Werte mit ihren Begriffen Individualität, Vernunft, Wirtschaft, Fortschritt, die im 17. bis zum 19. Jahrhundert erarbeitet worden sind, erlebten eine Sättigung. Was jetzt entstehe und sich in den sozialen Netzwerken manifestiere, sei eine Ersetzung der Vertikalität durch die Horizontalität oder einfacher: Das Gesetz des Vaters, in dem man von einer vorherrschenden Instanz die Lösung der Probleme erwarte, werde ersetzt durch das Gesetz der Brüder, das eine durch den gemeinsamen Alltag entstehende organische Solidarität ermögliche.
„Die wirtschaftliche (finanzielle) Krise, die man uns ständig unter die Nase reibt, ist lediglich die letzte Sättigungsform der Vorstellung vom individuellen Heil (von der Heilsökonomie). Und gerade dadurch weist diese „Krise“ auf die Rückkehr des Gemeinschaftsideals hin, das entweder gewaltsam (wie es die Revolten bezeugen) oder in einer viel altruistischeren Form (freiwillige Arbeit, Vereine, alternative Lebensformen, fairer Handel usw.) nach neuen Möglichkeiten sucht, die dem Zusammen-Sein eigentümliche Großzügigkeit und Solidarität zu äußern.“ (Michel Maffesoli)
(Mehr zur Ludwig-Börne-Preisverleihung 2014 hier)
Hallo Carmen,
Dein Blog ist ja der beste Gegenbeweis zu der engstirnigen Meinung von Herrn Illies. Und es gibt viele andere. Persönlich mag ich zum Beispiel Perisphere aus Düsseldorf.
Ob allerdings die neue Zeit und ihre Gegebenheiten unter denen wir schreiben eine solidarische und brüderliche sein wird oder werden kann, neige ich zu bezweifeln.
Es kann doch auch sein, dass eben die ganzen Möglichkeiten, die es uns vorderhand erlauben, unsere Meinung umstandslos kund zu tun, zu mehr Konkurrenz und Wettbewerb führen. (Sehr knapp formuliert.)
Aber ich bin gespannt, was Du weiter über den Maffesoli schreiben wirst.
Grüße
Stefan
Danke, auch für den Blog-Tip. Habe mich beim Lesen des Artikels „Wie alles wirklich funktioniert : Vegetarismus und Veganität“ auf Perisphere sehr amüsiert.