Mein Geburtsort war – bis zur Frankfurter Eingemeindung 1977 – eine selbständige und stolze Gemeinde, die aber leider für große Familien keinen bezahlbaren Wohnraum bot. So zogen wir, als ich sechs Jahre alt war und mein ältester Bruder 12, in ein katholisches Dorf in der Wetterau. Wir waren evangelisch und verstanden die Dörfler nicht. „Da hun eich die Käu gefeuret“, zitiere ich manchmal zur Belustigung meiner Tochter, wie die Menschen dort damals geredet haben („Da habe ich die Kühe gefüttert“).
Äußerst widerstrebend integrierten wir uns. Mein mittlerer Bruder wurde nach der Schule manchmal von Schulkameraden verprügelt, ich wurde in der dritten oder vierten Klasse über einen mir endlos scheinenden Zeitraum nach Unterrichtsschluss von mehreren Mädchen festgehalten und von einem Jungen abgeknutscht. Als ich ungefähr dreizehn war, kam mein Vater eines Sonntag abends zornig vom „Dämmerschoppen“ und erzählte, man würde im Dorf über mich reden, ich wäre auf den Bänken an der Kirchmauer gesehen worden. Ich war mir keiner Schuld bewusst, schämte mich aber trotzdem. Hinter dieser Mauer befand sich übrigens in einem riesigen, nicht öffentlich zugänglichen Park, ein katholisches Heim für schwer erziehbare Mädchen. Wer mit diesen in Kontakt trat, galt ebenfalls als verdorben. Der Vater meiner besten Freundin missbrauchte seine Töchter und schlug seinen Sohn windelweich.
Aber alle gingen sonntags in die Kirche und beichteten irgendwas. Schulfreunde sammelten Ideen für leichte Vergehen, die sie beichten konnten – die Wahrheit zu sagen, kam gar nicht in Frage. Bigott, verklemmt und verlogen, so erschien mir das Klima im Dorf.
Ich wollte nie dazugehören und ich litt darunter, nie dazuzugehören. Mit Anfang zwanzig zog ich nach Frankfurt. Was ist mir Heimat?
Ich denke manchmal an den Weg, den ich als kleines Kind zum nächsten Laden ging. Damals gab es noch keine Supermärkte, der Laden hieß Caspari, dort kaufte meine Mutter Nescafe-Döschen für eine Tasse. Es gab einen Turm in der Straße, in den man sich eine Prinzessin hineinträumen konnte.
Nachdem wir in das katholische Dorf umgezogen waren, fuhren meine Eltern freitags nach der Arbeit zum Großeinkauf zum Toom-Markt ins Nachbardorf. Im Sommer konnte man im Gras liegen, lesen oder den Himmel beobachten. Und wenn es ein besonderer Tag war, kam der Eismann im VW-Bus vorbei und hupte.
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Diese Post wurde inspiriert durch das Heimat-Spezial der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.